Wer ist WIRKLICH schuld, wenn MA ungesund oder unsicher arbeiten?
Wenn wir das Thema richtig anpacken, dann haben wir die Chance, dass wir positiv über Gesundheit und Arbeitssicherheit reden mit Beschäftigten und Führungskräften.
In der Podcast-Episode 104 sprechen wir darüber, wer eigentlich Schuld ist, wenn Beschäftigte unsicher bzw. ungesund arbeiten. Nach dieser Episode wissen Sie, ob das die Führungskräfte sind, ob die Leute selbst schuld sind oder ob vielleicht sogar Sie als PräventionsexpertIn dann versagt haben!
Ich erkläre Ihnen, wer WIRKLICH schuld ist, wenn MitarbeiterInnen im Burnout landen, in eine laufende Kreissäge greifen, die Treppe runterfallen und sich streiten. Das müssen wir ja schließlich wissen, wenn wir in der Prävention unterwegs sind und das verhindern wollen. Denn wir wollen ja an der Quelle des Problems ansetzen.
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Lassen Sie mich zu Beginn eine kleine Geschichte erzählen:
Als wir unser Haus fertig gestellt haben, hat die Baufirma den Innenputz aufgebracht und wir haben dann das finale Spachteln und Ausmalen selbst übernommen. Die ganze Familie hat mitgeholfen. Und wir haben jede freie Minute damit verbracht, die Wände schön glatt zu bekommen und dann auszumalen. Das war eine unglaublich mühsame Sache. Im Nachhinein: Das hätten Profis sicher viel schneller hinbekommen!
Heute würde ich das vielleicht anders machen. Egal. Jedenfalls: Am Nachmittag wollte ich noch ein bisschen etwas erledigen. Da habe ich beim Stiegenabgang beim Vorbeigehen noch eine Stelle gesehen, wo der Innenputz nicht schön war und wollte die Unebenheit schnell mit einer Spachtel wegmachen.
Ich habe mir die Spachtel geschnappt und bin 3 x drüber gegangen. Und ein kleiner Splitter Wandverputz ist mir direkt ins Auge gesprungen. Das hat saumäßig weh getan und es war nicht ganz klar, ob da jetzt eine Verletzung am Auge entstanden ist.
Wer ist daran schuld?
Jetzt könnte man natürlich schnell sagen: Eh klar, ich bin selbst schuld. Ich habe mir die Arbeit ausgesucht, die Spachtel in die Hand genommen, keine Schutzbrille aufgesetzt und das selbst verursacht. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht, wie ich gleich erzählen werde.
Warum ist das Thema wichtig?
Die Schuldfrage ist ein hoch emotionales Thema in der betrieblichen Prävention. Natürlich wollen wir Unfälle und Krankheiten verhindern. Und wenn dann doch mal was passiert, dann wird es eben schnell mal emotional.
Und dann kommen Aussagen wie "Die Leute sind doch selbst schuld, wenn sie krank werden." Oder: "Der war selbst schuld, dass er die Leiter runtergefallen ist."
Wir sind als PräventionsexpertInnen also sehr schnell mit dem Thema konfrontiert. Es ist schnell emotional. Und daher sollten wir uns eingehender damit beschäftigen, wenn wir gute Präventionsarbeit leisten und auch hilfreiche Gespräche führen wollen.
Wenn wir das Thema richtig anpacken, dann haben wir die Chance, dass wir positiv über Gesundheit und Arbeitssicherheit reden mit Beschäftigten und Führungskräften. Und nicht, dass es um den erhobenen Zeigefinger geht. Denn das hilft uns nicht weiter und in der Regel sind dann die Ohren unseres Gegenübers schnell zu.
Wenn man den Begriff "Schuld" bei Wikipedia eingibt, sieht man die Komplexität des Themas …
Wenn es darum geht: "Wer ist schuld, wenn sich Beschäftigte unsicher oder ungesund verhalten?", dann reden wir in der Regel von einem moralischen Begriff. Es geht mir hier nicht um Haftungsfragen oder juristisch verfolgbare Delikte.
Es geht mir um die moralische Frage:
Wer sollte sich anders verhalten oder sonst irgendwie etwas ändern, wenn Beschäftigte den ganzen Tag nur vor dem Laptop sitzen und einen kaputten Rücken bekommen? Muss sich die Mitarbeiterin einfach mehr dehnen in ihrer Mittagspause? Oder muss die Chefin für körperlich abwechslungsreiche Tätigkeiten sorgen?
Wenn eine Lagerarbeiterin sich den Finger zwischen 2 Paletten einklemmt: Hätte sie besser aufpassen müssen? Oder hat die Fachkraft für Arbeitssicherheit mit ihrer Gefährdungsbeurteilung versagt?
Wenn eine Reinigungskraft sich über Jahre die Hände mit Chemikalien ruiniert: Hätte sie die Verpackung besser lesen und sich die Handschuhe aus dem Lager holen müssen? Oder hätte die Chefin die Einhaltung der Schutzvorschriften regelmäßig kontrollieren müssen?
Wer ist also Schuld?
Bei all diesen Beispielen haben Sie jetzt sicher auch ein bisschen mitgedacht und überlegt. Und war es für Sie einfach sich zu entscheiden? Wahrscheinlich nicht.
Wahrscheinlich haben Sie jetzt so etwas gedacht wie: "Naja, irgendwie beides." Oder: "Das kommt drauf an."
Was ich mit dieser Episode erreichen will: Wir müssen in unserer Kommunikation weg von der Schuldfrage! Wir brauchen eine Orientierung an den Umständen, die zu sicherem oder unsicherem, zu gesundem oder ungesundem Verhalten führen!
Also nicht die Frage: WER ist schuld? Sondern: WIE ist es dazu gekommen?
Und ich weiß: Das ist schwierig! Schwierig für viele PräventionsexpertInnen, weil Umstände sind oft komplex, schwer zu erfassen, im Nachhinein nicht mehr feststellbar, ...
Einer Person die Schuld zu geben, ist einfach. Das liegt auch an einem psychologischen Phänomen: Dem fundamentalen Attributionsfehler. Kognitive Verzerrung, die besagt, dass man die Ursache von Verhalten eher in der handelnden Person sucht als bei den Umständen rundherum.
Also werden Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen und Meinungen systematisch überschätzt und äußere Faktoren (situative Einflüsse) unterschätzt.
Warum? Weil wir häufig besonders aufmerksam sind wie sich andere Personen verhalten. Und dann schauen wir nicht so sehr auf das Rundherum. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir uns dessen bewusst sind und bewusst gegensteuern, indem wir mit Fragen unsere Aufmerksamkeit lenken. Dass wir Menschen für Unfälle oder Krankheiten verantwortlich machen, ist also nicht ungewöhnlich sondern liegt daran, wie unser Gehirn tickt.
Aber genau deshalb müssen wir aktiv dagegen steuern. Bleiben wir einmal bei einem Beispiel: Die Lagerarbeiterin, die sich den Finger einklemmt zwischen 2 Paletten. Wir gehen davon aus: Grundsätzlich gibt es eine Gefährdungsbeurteilung und eine Unterweisung, wo das Thema eingebaut ist. Vielleicht sagt sie von sich selbst: "Ich habe da nicht gut aufgepasst. Ich habe gerade nicht hingeschaut, als der Kollege die Paletten verschoben hat und habe mich aber angehalten."
Gute PräventionsexpertInnen hören hier aber nicht auf. Wir fragen genauer nach:
- Warum hat sie nicht hingeschaut?
- War sie im Stress?
- Wieso hat sie sich gerade dort angehalten?
- Warum hat der Kollege trotzdem die Paletten verschoben?
Die Lagerarbeiterin wird uns hier mehr erzählen können, wenn wir genauer nachfragen!
Ich habe einen Grundsatz, von dem ich immer ausgehe: Menschen handeln sinnvoll! Also zumindest so, wie es ihnen in dem Moment sinnvoll bzw. richtig vorkommt. Manchmal stellt sich das halt im Nachhinein als deppert heraus.
Und das passt nicht nur bei Verhalten rund um Arbeitssicherheit sondern auch bei Aussagen rund um Gesundheit oder psychische Themen:
Blog von Prof. Bördlein von März 2021 - https://verhalten.wordpress.com/2021/03/03/jenseits-von-schuld-und-strafe-die-sichtweise-der-umstande/
"Wenn eine Person mit Nachdruck eine Einstellung äußert, mit der man nicht übereinstimmt, sollte man als Verhaltensanalytiker versuchen herauszufinden, welche Umstände die Person dazu bringen, diese Einstellung zu äußern.
Friman (2021) erinnert hier auch an Skinners Äußerung, dass "der Organismus immer recht hat". Wenn eine Person sich nicht so verhält, wie wir das gerne hätten, liegt das nicht an der Person, sondern an uns, unseren Erwartungen und den Umständen, unter denen diese Person sich verhält."
Wenn wir in der Prävention argumentieren mit den Umständen, dann kann das bei anderen Leuten so ankommen, als ob wir Ausreden suchen. Ausreden dafür, dass sich Leute ungeschickt, deppert, unsicher oder ungesund verhalten.
Eine Aussage die dann oft von Führungskräften kommt: "Aber was ist mit Eigenverantwortung? Die Leute sind ja erwachsen und müssen selbst denken."
Erst heute wieder hat mir jemand gesagt: "In dieser einen Abteilung gibt es jetzt schon 2 Burnout-Fälle und trotzdem schreiben mir die Kollegen um 23:00 Uhr noch E-Mails, die gar nicht so dringend wären. Die sind ja selbst schuld, wenn sie auch ins Burnout kommen."
Ich verstehe diesen Reflex sehr gut. Und gleichzeitig: Es wird Umstände geben, die die Leute gefühlt dazu "zwingen" sich so zu verhalten.
Die angesprochenen Kollegen werden sich ja nicht denken: "Oh, bei uns gab es schon 2 Burnout-Fälle. Ich weiß, dass langes Arbeiten Menschen krank macht. Naja, egal, ich arbeite trotzdem bis 23:00 Uhr durch, einfach weil ich sonst nichts zu tun habe im Leben."
Vielleicht ist diese Abteilung chronisch überlastet und hat zu wenige Team-Mitglieder. Dadurch erkranken diejenigen, die noch da sind und der Druck auf die anderen steigt. Und sie arbeiten noch mehr, um alles zu erledigen und dadurch verschlimmert sich die ganze Situation.
Ein anderes Beispiel: MitarbeiterInnen in einem Workshop beschweren sich einerseits, dass die Firma kein BGF macht UND dass der Drucker so weit wegsteht und sie ständig aufstehen müssen.
Ich verstehe, dass man da auch als BGF-ManagerIn schnell sagen will: "Die sollen Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen und sich bewegen und nicht jammern!" Aber ich glaube, hier muss man trotzdem mehr Fragen stellen und versuchen, die Situation der Beschäftigten zu verstehen. Auch wenn es manchmal sehr schwer fällt.
Aber auch hier gilt: Durchs Reden kommen die Leute zam. Wenn man nur genug Fragen stellt und die Hintergründe hört, wird man das Verhalten nachvollziehen können und sich vielleicht sogar denken: "Ja, da hätte ich mich wahrscheinlich auch so verhalten. Da hätte ich mir vielleicht auch den Finger eingeklemmt, würde zu viel sitzen den ganzen Tag oder würde bis 23:00 Uhr arbeiten."
Leider sehe ich es auch oft bei Geschäftsführungen oder Führungskräften: Die Schuld bei den MitarbeiterInnen zu suchen, ist oft Ausrede dafür keine Verhältnisprävention zu machen. Denn dann ist man nicht selber zuständig, sondern die MitarbeiterInnen.
Die MitarbeiterInnen sind selbst schuld, wenn sie sich unsicher/ungesund verhalten, also muss die Führungskraft nur schimpfen oder eine motivierende Rede halten und alles ist gut.
Aber ganz ehrlich: So klappt das nicht! Wenn wir das Verhalten von Menschen verändern wollen, ist das schwierig und eine lange Reise. Wir müssen versuchen zu verstehen, wie es zu dem Verhalten gekommen ist bzw. was es für Umstände braucht, um das "neue", also das gesunde Verhalten zu fördern.
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Wer übrigens mehr über solche psychologischen Phänomene erfahren will und wie sie uns in der Präventionsarbeit betreffen oder auch, wie wir sie sogar nutzen können: In der OnlineAkademie gibt es den neuen Kurs "Das menschliche Gedächtnis" und da gibt's ganz viele praxisnahe Beispiele von solchen kognitiven Verzerrungen (engl: Bias). Dieser Kurs ist für alle Mitglieder jederzeit verfügbar.
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Wenn wir nochmal zurückkommen auf die Geschichte, die ich am Anfang erzählt habe: Ich und das Spachteln von meinem Haus, wo mir ein Splitter ins Auge gesprungen ist.
Wenn das an einem Arbeitsplatz passiert wäre, könnte man fragen:
- Warum wollte die Veronika unbedingt so schnell die Unebenheit an der Wand weg machen?
- Warum war sie so im Stress?
- Warum hatte sie keine Schutzbrille auf oder zumindest bei der Hand an dem Tag?
- Warum hat sie niemand vorher auf die Gefahr hingewiesen?
- …
Sie sehen: Wenn man gute Fragen stellt, dann kommen wir weg von der Schuld einer Person, hin zu einer komplexen Analyse. Das ist mühsam, aber hilfreich für nachhaltige Präventionslösungen!
Wie ist das bei Ihnen? Schreiben Sie mir gerne auf LinkedIn oder Twitter mit dem Hashtag pionierederpraevention oder wenn Sie schüchtern sind, geht auch eine Direktnachricht ;-)
Weitere Empfehlungen:
- Kurs "Das menschliche Gedächtnis" (für Akademie-Mitglieder)
- Podcast-Episode 12: "Warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten"
Wenn Sie jemanden kennen, für die/den der Podcast wertvoll sein könnte, dann freue ich mich über eine Weiterempfehlung!
Veronika Jakl
Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".
Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren.
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.
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