Warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten
Welches Menschenbild haben denn Sie? Was glauben Sie, was für Menschen grundsätzlich wichtig ist? Auf welcher Basis treffen Menschen Entscheidungen?
Menschen haben mich schon immer fasziniert, vor allem Gruppendynamiken: Wie verhalten sich Menschen in Gruppen? Warum gibt es Phänomene wie Gruppendruck?
Nachfolgend gibt es zwei Geschichten, bei denen Sie mit überlegen können, was denn Sie glauben, was hinter dem Verhalten stecken könnte:
Geschichte 1:
Ich habe eine Anfrage für eine Teamklausur von SozialarbeiterInnen bekommen. Die Geschäftsführerin hat angerufen: "Wir wollen klären: Warum geht es uns denn eigentlich so oft so schlecht? Warum klappt manchmal einfach nicht, was wir uns vornehmen?"
Warum hat sie das getan? Was hat sie dazu bewogen sich genau JETZT zu melden? Warum hat sie sich bei MIR gemeldet? Warum hat sie diese Formulierung verwendet? Was schätzen Sie?
Meine Ansicht: Ich habe keine Ahnung! Es gibt viele Möglichkeiten:
- Es kann sein, dass diese Geschäftsführerin gerade heute eine Teamsitzung gehabt und ein/e MitarbeiterIn geweint hat, weil er/sie so gestresst ist.
- Es kann sein, dass sie eine Beschwerde von einer Klientin oder einem Klienten bekommen hat, weil ein/e MitarbeiterIn sehr schlecht gelaunt war.
- Es kann aber auch sein, dass die Geschäftsführerin davon ausgeht, dass Sozialarbeit immer mit Anstrengung, Tränen und dem Überwinden von Hindernissen verbunden ist. Aber irgendetwas in ihr sagt ihr, dass man das ändern kann.
- Oder es kann sein, dass sie die Teamklausur gar nicht will, aber ihre Stellvertretung gesagt hat: "Entweder wir machen diese Teamklausur oder ich kündige!"
Geschichte 2:
Am Beginn der Zusammenarbeit mit einer Produktionsfirma für Metallprodukte hat es ein erstes Planungsgespräch für ein Projekt rund um das Thema "Psychische Belastungen" vor Ort gegeben. Der Geschäftsführer hat mich nach Ende des Gesprächs gefragt: "Wollen Sie mal die Hallen sehen?" Das wollte ich natürlich. Er ist dann mit mir durch die verschiedenen Produktionshallen gegangen. Der Geschäftsführer selbst hat dabei normale Lederschuhe getragen, obwohl alle MitarbeiterInnen dort Sicherheitsschuhe angehabt haben. Und – soweit ich das beurteilen kann – haben die Arbeitsbedingungen das Tragen von Sicherheitsschuhen eigentlich auch verlangt.
Warum hat er das getan? Warum wollte er mir die Hallen zeigen und warum ist der Geschäftsführer selbst mit diesen Schuhen dort herumgegangen, wenn eigentlich Sicherheitsschuhe angebracht gewesen wären? Was schätzen Sie?
Meine Ansicht: Auch hier habe ich keine Ahnung! Das kann extrem viele Gründe haben:
- Es kann sein, dass er es nicht besser wusste.
- Es kann sein, dass er es eigentlich schon besser wusste, aber eben gerade nicht daran gedacht hat.
- Es kann aber auch sein, dass der Geschäftsführer es zwar wusste, es ihm aber nicht wichtig war.
- Oder es kann sein, dass er einen eingewachsenen Zehennagel gehabt hat und die Schuhe nicht wechseln wollte.
Ich habe 6 Jahre lang Psychologie studiert und kann trotzdem keine Gedanken lesen. Ich weiß, dass ich nicht alles weiß. Und das ist auch gut so!
Erklärungsmodelle
Früher hat es in der Wissenschaft sehr einfache Erklärungsmodelle für Verhalten gegeben.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, rund um 1910 / 1915, war das Modell des "homo oeconomicus" (wirtschaftliche Menschen) beliebt. Dieses Denkmodell kommt aus den Wirtschaftswissenschaften. Es besagt, dass Menschen Nutzenmaximierer sind. Das Allerwichtigste für sie ist der eigene Nutzen. Das heißt, Menschen handeln in diesem Modell 100 % rational. Es gibt ganz fixe Prioritäten. Und man kann eigentlich alles im Verhalten berechnen.
Eduard Spranger hat 1914 in seiner "Psychologie der Typenlehre" den homo oeconomicus als eine Lebensform des Homo sapiens bezeichnet und hat ihn wie folgt beschrieben: "Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist also derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung."
Einige, der vielen Einflussfaktoren auf das menschliche Verhalten sind:
- Genetische / biologische Einflüsse
- Gelerntes Verhalten und Vorerfahrungen
- Routinen
- Persönlichkeit (= Mischung aus Genen und Gelerntem)
- Aktueller Fokus / Priorität
- Gelerntes Wissen
- Unbewusste Handlungen <=> bewusste Handlungen
- Bauchgefühl <=> Handlung bewusst gegen das eigene Bauchgefühl
- Soziale Dynamiken (wie ein gefühlter "Gruppendruck")
- Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einschränkungen
- Umwelt inkl. Ausstattung, Technologie, Umweltbedingungen (wie Licht und Lärm)
Dazu gibt es viele Inhalte in der Online-Akademie "Pioniere der Prävention", weil das für unsere Mitglieder wichtig ist. Wenn auch Sie dieses Thema "Psychologie" mehr interessiert im Kontext von Arbeitssicherheit und Gesundheitsmanagement, dann schauen Sie gerne bei uns vorbei.
2 wichtige Grundsätze (nach diesen interpretiere ich IMMER):
1. Menschen handeln so, wie es gerade für sie (!) Sinn macht!
- Zum Beispiel das Rauchen: Es macht objektiv überhaupt keinen Sinn, es schädigt die Gesundheit. Aber es kann für einen bestimmten Menschen Sinn machen, weil dieser vielleicht gelernt hat, dass es sie/ihn entspannt. Für diesen Menschen ist es eine wichtige Routine, um sich zu entspannen. Und dann macht es für diese Person Sinn in diesem Moment zur Zigarette zu greifen. Aber eben nur für diese Person in dem Moment.
- Zum Beispiel die Geschichte 2 mit dem Geschäftsführer, der in der Produktionshalle selbst keine Sicherheitsschuhe getragen hat: Das kann für ihn in diesem Moment gerade sinnvoll gewesen sein. Weil z.B. die Scham, vor mir die Schuhe auszuziehen, größer war als der wahrgenommene Nutzen (bislang ist ohnehin noch nie etwas passiert). In diesem Moment macht das dann für ihn mit dieser Vorerfahrung Sinn keine Sicherheitsschuhe anzuziehen.
2. Konstruktivismus
Jede/r Einzelne "konstruiert" sich seine eigene Wirklichkeit in ihrem/seinem eigenen Kopf. Es gibt keine "Wahrheit", es geht immer um Wahrnehmungen und Einstellungen. Und diese sind für jeden Menschen anders, jeder hat eine andere Wahrnehmung, eine andere Einstellung. Alle Menschen interpretieren Situationen unterschiedlich. Ich kann NIE wissen, wie jemand anderer die Welt sieht. Aber man kann sich einander annähern durch Austausch und Gespräche.
In der Wissenschaft weiß man: Es ist komplex. Jede/r, die/der auf die Frage "Warum verhält sich dieser Mensch so?" eine einfache Antwort gibt, hat keine Ahnung von dieser Komplexität oder lügt.
Es greift einfach zu kurz, wenn jemand Aussagen macht, wie beispielsweise:
- "Wenn du dankbar bist, dann verschwindet die Angst und ein erfülltes Leben folgt."
- "Deine Entscheidungen bestimmen dein Schicksal."
- "Du musst nur deine negativen Glaubenssätze loswerden, um erfolgreich zu werden."
Solche Aussagen sind banal und NULL wissenschaftlich belegt. Sie sind esoterisch, aber nicht psychologisch.
In der Wissenschaft ist man nun auch schon weiter. Die Idee des "homo oeconomicus" wurde verworfen. Und auch die Ideen von Freud wurden extrem weiterentwickelt. Jetzt sind wir in einem Zeitalter des "COMPLEX MAN".
Jetzt: Zeitalter des "COMPLEX MAN"
Es hat viele verschiedene Forschungsbereiche und Theorien gegeben, die jeweils ihre Sichtweise sehr stark auf einen Teilaspekt des menschlichen Wesens fokussiert haben, z.B. nur auf Gruppendynamik, nur auf den Einfluss von Persönlichkeit. Sehr häufig haben solche Forschungsbereiche die anderen außer Acht gelassen. Dieser Verschiedenartigkeit wird jetzt aber im Ansatz des "complex man" (des komplexen Menschen) Rechnung getragen. Die wesentlichen Annahmen in diesem Menschenbild sind:
- Die Bedürfnisse von verschiedenen Individuen variieren. Auch intraindividuell kann es, je nach Situation, zu einer Veränderung der Bedürfnisse kommen. Das heißt, je nach Situation gibt es unterschiedliche Bedürfnisse (z.B. je nachdem, ob ich gerade im Büro sitze oder ob ich zu Hause auf der Couch liege). Die Theorie einer generellen Bedürfnishierarchie, wie von Maslow beschrieben, ist so nicht mehr haltbar.
- Einzelne Motive (Bedürfnisse) sind nicht unabhängig, sondern wirken in einem komplexen Muster miteinander.
- Neue Motive können innerhalb einer Organisation erlernt werden (z.B. bei Jobwechsel).
- Es können in verschiedenen Organisationen, aber auch innerhalb einer Organisation, verschiedene Motive von einer Person verfolgt werden.
- Der Output der Organisation ist nicht nur vom Motiv, sondern auch von den Fähigkeiten und Fertigkeiten der einzelnen Personen sowie vom sozialen Umfeld in der Organisation abhängig.
Im Rahmen des "COMPLEX MAN"-Modells gibt es somit meist nicht nur einen Ansatz, der in allen Fällen zum Erfolg führt. Es ist vielmehr auf die jeweilige Situation abgestimmt vorzugehen.
Vielen Dank fürs Lesen! Und wenn Sie mehr psychologische Impulse haben wollen: Schauen Sie vorbei unter www.PioniereDerPraevention.com . Das ist ein großes Netzwerk von Selbstständigen und innerbetrieblichen Fachkräften aus Arbeitssicherheit, Gesundheitsmanagement, Arbeitspsychologie und sogar einigen Behörden-VertreterInnen.
Veronika Jakl
Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".
Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren.
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.
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