Arbeitszeitdiskussion
Prävention ist politisch.
Was sagen Sie zur aktuellen Debatte rund um freiwillig lange Arbeitstage & deren gesundheitliche Auswirkungen?
Sind Sie erschöpfter, wenn Sie von 09:00 bis 20:00 Uhr arbeiten, als wenn Sie um 17:00 Uhr aufhören?
Das (arbeitgebernahe) Institut der deutschen Wirtschaft hat eine Studie herausgegeben, wo sie die letzten 3 Arbeitszeitbefragungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) analysiert haben. Es geht nur um Büro-Angestellte mit Homeoffice, 10-48h/Woche.
Das IW sagt, dass sehr lange Arbeitstage (& kurze Ruhephasen) eh nur selten vorkommen und dann bei Leuten Leistungsdruck oder auch privat motivierte Arbeitszeitunterbrechungen. Dort gibt es "keine systematischen negativen Auffälligkeiten im Arbeitserleben (z.B. mit Blick auf die Arbeitszufriedenheit, Erschöpfung oder Arbeitsfähigkeit)".
Und bei Leuten, die ihre Arbeitszeit ausweiten und häufiger "potenziell mehr als 10 Stunden" arbeiten, bleibt der "selbst eingeschätzte allgemeine Gesundheitszustand oder die Anzahl der krankheitsbedingten Ausfalltage" gleich.
Ziemlich überraschend.
Ich werde immer ein wenig stutzig, wenn unterschiedliche Outcome-Variablen gemessen werden und 1x Querschnitte & 1x Längsschnitte herangezogen werden.
Und die Vorgehensweise ist auch keine Experimentalstudie, wo man sieht, was Flexibilisierung und Verlängerung der Arbeitstage mit Angestellten macht.
Dass es arbeitspsychologisch nicht einfach ist, weiß ich.
Flexibilisierung der Arbeitszeit hat Licht- und Schattenseiten.
Das Autonomie-Paradoxon.
Genau deshalb wissen wir auch in der Prävention, dass man manchmal Menschen vor sich selbst schützen muss.
Ich kenne das ja:
Wenn ich Zeit habe und viel zu tun ist, dann bleibe ich auch mal länger als es mir gut tut.
Dann gehe ich um 20:30 Uhr aus dem Büro, müde, erschöpft und unsicher, ob die letzten Mails, die ich verschickt habe, nicht doch schon viele Tippfehler enthalten haben.
Da würde ich mir manchmal jemanden wünschen, der mir gesagt hätte, ich solle doch früher Schluss machen ...
Lustig finde ich es, wenn von "vollständiger Arbeitszeitsouveränität im Sinne der Beschäftigten" gesprochen wird. Als ob Angestellte wirklich jemals vollständig autonom sind in ihrer Arbeitszeit.
Selbst ich als Selbstständige würde das nicht von mir behaupten, weil ich auch Kundenanforderungen und Projektphasen spüre.
Das IW gibt aber auch an/zu, dass die Arbeitskultur (z.B. die Anforderung an Erreichbarkeiten) hier eine sehr wichtige Rolle spielt.
Und auch fällt der relativierende Satz "Dass sich jemand nach langen Arbeitstagen eher körperlich erschöpft fühlt, sollte niemanden beängstigen. Das ist normal. Wichtig ist, dass sich die Beschäftigten von den Anstrengungen erholen können, was die empirische Analyse auch für die allermeisten Betroffenen nahelegt."
Am Ende geht es um die politischen Fragen:
Soll es Tageshöchstarbeitszeiten geben oder Wochenhöchstarbeitszeiten?
Welche Beeinträchtigungen tolerieren wir?
Wo ziehen wir als Gesellschaft die Grenzen?

Veronika Jakl
Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".
Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren.
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.
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