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Wird Präventionskultur überschätzt?

Viele Fachkräfte für Arbeitssicherheit lassen sich zum Safety Culture Manager ausbilden. Macht das überhaupt Sinn? Steht das Konzept einer Präventionskultur auf einem stabilen Fundament oder auf wackeligen Beinen?

In dieser Episode sprechen wir über ein Thema, das gerade viel diskutiert wird in unserer Branche: Präventionskultur. Also reden wir mal Klartext: Wird das Thema nicht maßlos überschätzt? Vor allem im Bereich der Arbeitssicherheit ist Safety Culture sehr präsent.

In dieser Podcast-Episode 90 kann ich jetzt zwar nur mal meine Sicht der Dinge erzählen. Aber: Wie ist IHRE Ansicht zum Thema Präventionskultur? Geben Sie hier Ihre Meinung ab: https://www.videoask.com/frvngr937 . Dann kommen Sie (gerne auch anonym) in der Podcast-Episode am 04. Oktober vor. Ich freue mich darauf, Ihre Sichtweise zu hören!

Wieso reden wir überhaupt darüber?

Ich habe die Mitglieder in meiner Online-Akademie "Pioniere der Prävention" gefragt, welche Themen sie sich in den nächsten Monaten vermehrt wünschen, was sie interessiert.

Eine Person meinte dann: "Ich will weniger Präventionskultur. Es ist in aller Munde, aber es läuft Gefahr selbst zu töten das Thema. Man wird überfrachtet damit. Dabei werden viele Sachen vergessen. Bei Kleinunternehmen spricht kein Mensch davon. Die haben andere Probleme wie wirtschaftliche Probleme und so weiter."

Ich habe dann auch einen Artikel gelesen von Jean-Christophe Le Coze. Der setzte sich kritisch mit Trends in der #Arbeitssicherheit auseinander, u.a. mit Sicherheitskultur. Das habe ich auf LinkedIn gepostet, und es hat viel Diskussion ausgelöst in den Kommentaren. Und auch beim Stammtisch in der Akademie haben wir das dann intensiv diskutiert.

Kernfrage: Wird das Thema Präventionskultur überschätzt? Ist das wirklich relevant für alle Organisationen?

Ich liebe ja solche Diskussionen - kontrovers, lebhaft. V.a. zu Themen, die von vielen als selbstverständlich wahrgenommen werden. Deshalb will ich hier mal die Sache von mehreren Seiten beleuchten.

Wen das übrigens mehr interessiert: In der Online-Bibliothek gibt es einen neuen Kurs zu "Präventionskultur": Ich zeige Modelle, bespreche Kritikpunkte daran, aber auch Messverfahren und Ansätze, wie man Präventionskultur vielleicht beeinflussen kann.

Das jetzt in dieser Episode ist nur ein kleiner Ausschnitt...

1. Was ist überhaupt Präventionskultur?

Ich habe schon die Aussage gehört: "Die haben ja gar keine Präventionskultur..." Das ist FALSCH: Jede Firma hat Präventionskultur! Manche ist halt mühsam für uns... Aber Kultur ist wie die Persönlichkeit einer Firma.

Es gibt 3 Ebenen:

  • Organisationskultur
  • Präventionskultur
  • Sicherheitskultur

Formen von Präventionskultur in deutschen Betrieben, BAuA, 2019: "Gesamtheit gemeinsamer Werte- und Normvorstellungen sowie geteilter Denk-, Problemlösungs- und Verhaltensmuster in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit"

2. Welche Ausprägungen von Präventionskultur gibt es?

Es gibt 3 verschiedene Arten von Kulturmodellen:

  • Offene Mehr-Ebenen-Modelle
  • Mehr-Ebenen-Modelle mit Typologien
  • Reifegrad-Modelle

Das bekannteste Offene Mehr-Ebenen-Modell stammt von Edgar Schein. Er sagt, dass Kultur aus mehreren Ebenen besteht:

  • Sichtbare Merkmale: Zustand des Gebäudes, Ausstattung, Verhalten
  • Herausgestellte Werte: Kommunizierte Unternehmensleitlinien, Ziele, Strategien, Aussagen
  • Grundlegende Annahmen und Werte: Einstellungen, Denkmuster, Überzeugungen

Modell mit Typologien: Die Formen von Präventionskultur in deutschen Betrieben, BAuA, 2019, sind: "Standard-Setzer", "Fehlervermeider", "Do-it-yourselfer", "Systematiker" & "Techniker" (diese Typologien werden beschrieben mit typischen Mustern).

Reifegrad-Modelle sind z.B. die Bradley-Kurve. Oder das Stufenmodell der kommmitmensch-Kampagne. Dieses besagt, dass Kultur in 5 Stufen ablaufen kann:

  1. Stufe: Gleichgültig
  2. Stufe: Reagierend
  3. Stufe: Regelorientiert
  4. Stufe: Proaktiv
  5. Stufe: Wertschöpfend

Aber was stimmt denn jetzt?

Das ist schwer zu sagen. Fast alle Modelle haben wissenschaftliche Studien, die das jeweilige Modell unterstützen. Die theoretische Fundierung fehlt aber häufig. Das ist auch einer der Kritikpunkte, dass die theoretische Fundierung sehr schwach ist.

Was ich für die Praxis wichtiger finde: Es macht einen riesigen Unterschied auf meine Beratung, wie ich über Kultur denke.
Wenn ich Kulturaspekte einzeln betrachte, also Verhalten von Einzelpersonen wie der Geschäftsführung oder kommunizierte Strategien und Denkmuster, dann ist das sehr komplex. Vielleicht hilft mir das nicht konkret weiter in meiner Beratungsarbeit.
Wenn ich im Gegensatz dazu so ein Reifegrad-Modell hernehme mit 5 Schritten, dann habe ich vielleicht schnell ein Gefühl, auf welchem dieser 5 Schritte eine Organisation gerade ist. Damit komme ich aber auch schnell in eine Bewertung:
  • Wie "weit" sind sie schon?
  • Was können oder machen sie "noch nicht"?

Und ich glaube zu wissen, wo die Reise hingehen muss. Es ist dann schnell so eine Art schulische Benotung mit einem klaren Ziel, nämlich der "obersten Kategorie" in dem Modell – egal, ob dieses Ziel jetzt fruchtbar, unterstützend oder wertschöpfend heißt. Und das hat natürlich einen Einfluss auf meine Beratung, darauf wie ich über meine KundInnen denke und darauf, was ich ihnen empfehle

Auch wenn ich in Typologien denke - also:  Sind die Leute in der Firma jetzt "Standard-Setzer", "Fehlervermeider", "Do-it-yourselfer", "Systematiker" & "Techniker"? - dann kann ich schnell in Vorurteile verfallen und vielleicht mir die Kultur nicht mehr so genau anschauen. Ich stecke sie in eine Schublade und gehe in der Beratung vielleicht nicht mehr so gründlich vor.

Das hat alles seine Fallstricke, egal mit welchem Modell man arbeitet!

Ich erzähle das im Detail in dem Kurs "Präventionskultur" in der Online-Akademie. Wenn Sie schon Mitglied sind bei den Pionieren der Prävention, dann gerne in die Bibliothek schauen!

3. Warum gibt es dann überhaupt diese ganzen Modelle, wenn es wissenschaftlich eh umstritten ist und es Probleme machen kann in der Beratungsarbeit?

Weil wir PräventionsexpertInnen auch nur Menschen sind. Wir denken halt gerne in Schubladen! Es sind halt Konstrukte, mit denen wir versuchen sehr komplexe Interaktionen in einer Organisation mit wenigen Worten zu beschreiben. Es hilft uns (scheinbar) in unserer Arbeit, wenn wir Verhaltensweisen, die wir in einer Firmen sehen, einsortieren können.

Auch wenn wir Tipps lesen, wie Beratung funktionieren kann, die scheinbar genau auf die Situation bei den KundInnen passt, hilft uns das weiter.

Wenn wir so eine komplexe Sache wie Firmenkultur durch eine Brille betrachten können, die es uns ein wenig einfacher macht, gibt das ein Gefühl von Kontrolle. Für uns und für die Firmen, der wir eine Dienstleistung dazu verkaufen.

Ich sage nicht, dass das schlecht ist. Ich sage nur, dass wir damit reflektiert umgehen müssen.

4. Was ist jetzt in kleinen Firmen? Brauchen die jetzt keine Präventionskultur?

Wie gesagt: Jede Firma hat eine Art von Präventionskultur! Auch ein kleiner Blumenladen mit 3 Beschäftigten. Und ja: Diese brauchen wahrscheinlich wirklich keine Beratung zum Thema Präventionskultur. Die haben andere Alltagssorgen.

Ganz ehrlich: Wenn jetzt jemand zu mir und meiner Mitarbeiterin kommen würde und mir sagen würde, wir sollen uns doch beraten lassen, wie wir unsere Präventionskultur in der Firma verbessern können, dann würde ich das Gespräch auch wieder beenden.

ABER: Wenn jetzt der Arbeitsmediziner, der uns betreut, das Thema im Hinterkopf hat und seine Beratung dadurch besser wird für uns, würde es mich sogar sehr freuen!

Und jetzt freue ich mich auf Ihren Shitstorm oder Ihre Dankesworte für die Folge. Sagen Sie offen Ihre Meinung und Sie haben die Chance in einer der nächsten Podcast-Episoden damit vorzukommen! Entweder über LinkedIn oder mit diesem Link: https://www.videoask.com/frvngr937

Feedback und Fragen an Veronika Jakl:
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Veronika Jakl auf LinkedIn:
Hier geht es zur Online-Akademie "Pioniere der Prävention":
Veronika Jakl

Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".

Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren. 
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.

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