Verhaltens- oder Verhältnisprävention? Kontinuum statt schwarz/weiß?
Wir reden immer von Verhältnisprävention und Verhaltensprävention, aber wo genau sind die Grenzen? Ist es wirklich immer so klar schwarz oder weiß?
In der Podcast-Episode 198 sprechen wir über die Unterschiede und Grenzen zwischen Verhältnisprävention und Verhaltensprävention. Gibt es wirklich klare Trennlinien oder bilden die beiden Präventionsansätze eher ein Kontinuum? Was bedeuten diese Konzepte in der Praxis und welche Maßnahmen sind wirklich nachhaltig?
Nach dem Hören dieser Episode wissen Sie, wie Sie Maßnahmen der Prävention gezielt einsetzen können, um sowohl kurzfristige Verhaltensänderungen als auch langfristige strukturelle Verbesserungen zu erzielen.
Heute zeige ich Ihnen also, wie wir zwischen Verhältnis- und Verhaltensprävention unterscheiden können und warum diese Unterscheidung in der Praxis oft verschwimmt. Ziel ist es, langfristig erfolgreiche Präventionsmaßnahmen in Ihrem Unternehmen umsetzen zu können ohne sich in theoretischen Konzepten zu verlieren.
Wir reden immer von Verhältnisprävention und Verhaltensprävention, aber wo genau sind die Grenzen? Ist es wirklich so klar schwarz oder weiß? Oder handelt es sich vielmehr um ein Kontinuum von unterschiedlichen Graustufen?
Gesetzlich ist es klar:
Gefahren sind immer an ihrer Quelle zu bekämpfen, und der kollektive Gefahrenschutz hat Vorrang vor individuellem Gefahrenschutz. Doch was bedeutet das in der Praxis?
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Verhaltensprävention bedeutet, Krankheiten und Unfälle zu verhindern, indem das individuelle Verhalten und Handeln der Beschäftigten geändert wird. Die Leute sollen motiviert werden, ihr Verhalten zu verändern, Risiken zu vermeiden und gesundheitsförderliche Maßnahmen zu nutzen. Wir wollen damit das Wissen und das Verhalten der Mitarbeitenden positiv beeinflussen.
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Verhältnisprävention bedeutet, Krankheiten und Unfälle zu verhindern, indem die Arbeitsplatz- und Lebensbedingungen verändert werden. Hier geht es darum, die Arbeitsbedingungen, die Umgebung so zu gestalten, dass Risiken minimal sind.
Auch wenn dies trennscharf klingt, ist es das in der Realität aber oft nicht.
Grauzonen:
1. Sind Dinge, die uns zwingen auch Verhältnisprävention?
Also beispielsweise Drehkreuze, die nur Bauarbeiter mit vollständiger persönlicher Schutzausrüstung auf eine Großbaustelle zulassen. Dieses Beispiel habe ich in einer Podcast Episoden verwendet und habe dann eine E-Mail bekommen von einem geschätzten Hörer, der meinte, dass das für ihn nicht mehr zur Verhältnisprävention gehört, weil es eben Zwang darstellt. Aber genau das ist für mich das Paradebeispiel für Verhältnisprävention. Weil es die Rahmenbedingungen verändert.
2. Der Hörer hat auch gemeint, dass Verhältnisprävention für ihn Dinge wie Nudging, also liebevolle Schubser in die richtige Richtung, sind.
Nudging ist für mich manchmal eine Grauzone zwischen Verhältnis- und Verhaltensorientierung.
Beispiele für Nudges:
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Treppenhaus offen, hell und einladend gestalten, damit Menschen lieber zu Fuß gehen als mit dem Lift zu fahren → Ist das jetzt Verhältnisprävention, weil ich das Treppenhaus verändere? Oder ist es Verhaltensprävention, weil man das Verhalten verändern will (eher zu Fuß zu gehen)?
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Automatische Anmeldung zu Impf-Aktionen mit Zusendung eines persönlichen Termins inkl. Option sich bewusst abzumelden→ Ist das Verhältnisprävention? Oder ist es auch Verhaltensprävention, weil es das Verhalten verändern will?
Und dann gibt es noch viele Beispiele, die ganz klar Verhaltensprävention sind, weil sie nur Anreize zur Verhaltensänderung sind:
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Einladung ausschicken zu Bewegungsangebot per Meeting-Einladung (in digitalem Terminkalender) an alle Beschäftigten
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Beliebte MitarbeiterInnen, Prominente bzw. Führungskräfte sind Testimonials für Gesundheitsaktionen
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Das Unternehmen spendet erst ab einer gewissen Teilnahmequote bei einem Gesundheitstag.
3. Auch eine Grauzone stellen für mich strukturiert eingeführte Prozesse dar, die aber auf das Verhalten von einzelnen Personen abzielen.
3 Beispiele:
- Kaufen von höhenverstellbaren Schreibtischen für alle
- Ein genauer Prozess, wie die Soft Skills einer Führungskraft im Recruiting-Prozess überprüft werden, mit dem Ziel, dass Führungskräfte mit großer Führungskompetenz eingestellt werden, um für die Beschäftigten ein gesundes Sozialklima zu schaffen
- Trauermanagement und Prävention von Konflikten/Stress, wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin verstirbt. Es braucht einerseits klare Prozesse (Wer informiert die Familie? Wann werden persönliche Gegenstände übermittelt, wenn sie nicht abgeholt werden?), aber es braucht auch sensibilisierte Führungskräfte, damit diese die richtigen Worte finden. Ist dann die Schulung von allen neuen Führungskräften einmal im Jahr Verhältnisprävention, weil es eine Struktur ist? Oder ist es Verhaltensprävention, weil es am Verhalten der einzelnen Führungskräfte ansetzt?
Warum reden wir überhaupt darüber?
Ja, es ist eine akademische Diskussion.
Aber ich möchte Sie zum Nachdenken über 4 verschiedene Dinge anregen:
1. Nachhaltigkeit:
Man muss sich schon überlegen, was hilft wirklich strukturell und nachhaltig! Und wie kann man Nachhaltigkeit von Maßnahmen sicherstellen? Wie schaffen wir es, dass Prävention nicht nur kurzfristige Verhaltensänderungen bringt, sondern wirklich in den Arbeitsalltag integriert wird? Verhältnispräventive Maßnahmen wie die Einführung sicherer Arbeitsabläufe oder ergonomischer Arbeitsplätze sind oft strukturell tief verankert und damit nachhaltiger. Sie wirken automatisch, ohne dass das Verhalten der einzelnen Person immer wieder neu angepasst werden muss. Im Gegensatz dazu erfordert Verhaltensprävention, wie etwa Schulungen, häufig eine regelmäßige Auffrischung, damit sie langfristig im Bewusstsein bleibt. Und jede:r Beschäftigte muss immer wieder neu "eingeschult" werden. Da braucht man auch selbst viel Energie und Fokus, um da dran zu bleiben.
2. Verantwortung:
Ein weiteres Argument, warum diese Diskussion entscheidend ist: Sie lenkt den Fokus auf die Frage der Verantwortung. Verhältnisprävention legt die Verantwortung stärker auf das Unternehmen, weil es darum geht, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Risiken minimiert werden. Verhaltensprävention hingegen verlagert einen Teil der Verantwortung auf die Mitarbeitenden, da sie dazu angehalten werden, sich richtig zu verhalten.
3. Kombination entscheidend:
Nehmen wir beispielsweise die Einführung von Ergonomie-Programmen. Da ist es wahrscheinlich nicht genug, höhenverstellbare Schreibtische zu kaufen (Verhältnisprävention) sondern wir müssen den Mitarbeitenden auch beibringen, wie sie ihren Arbeitsplatz richtig einstellen (Verhaltensprävention). Viele Unternehmen entscheiden sich für die Anschaffung der Schreibtische und gehen davon aus, dass das Problem damit gelöst ist. Aber ohne das nötige Wissen über die richtige Nutzung können solche Maßnahmen schnell ins Leere laufen. Hier zeigt sich, dass beide Formen der Prävention ineinandergreifen müssen, um langfristig erfolgreich zu sein.
4. Bessere Ressourcennutzung:
Wenn wir wissen, dass eine verhältnispräventive Maßnahme nachhaltiger wirkt, könnten wir entscheiden, dort zunächst zu investieren. Langfristige Strukturveränderungen erfordern oft höhere Anfangsinvestitionen, bringen aber oft eine nachhaltigere Wirkung. Verhaltenspräventive Maßnahmen wie Schulungen oder Workshops können schneller umgesetzt werden, aber ihre Wirkung lässt nach, wenn sie nicht regelmäßig wiederholt werden.
Fazit:
Am Ende geht es mir nicht um theoretische Konzepte. Es geht mir darum, Maßnahmen zu entwickeln, die langfristig den Arbeitsalltag verbessern, die effektiv die Gesundheit der Mitarbeitenden schützen und effizient sind. Ziel sollte es sein, die richtige Balance zwischen kurzfristigen Erfolgen und nachhaltigen Veränderungen zu finden.
Aufgabe der Woche:
Überlegen Sie sich, welche Maßnahmen in Ihrem Unternehmen eher Verhältnis- und welche eher Verhaltensprävention sind. Prüfen Sie, ob Sie eine gute Balance zwischen beiden Ansätzen haben, um langfristig erfolgreich zu sein.
Veronika Jakl
Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".
Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren.
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.
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