Viele Standorte, aber gemeinsame Lösungen: ein Klausurkonzept
Die Firma hat die Evaluierung psychischer Belastungen durchgeführt. Aber an jedem Standort extra. Jetzt gibt es viele Protokolle, aber immer noch keine Lösung zu den grundlegenden Problemen. Wie kann man vorgehen? Wie findet man passende Maßnahmen, wo alle Standorte und alle Berufsgruppen einverstanden sind? Hier zeigen wir Ihnen unser erprobtes Klausurkonzept!
Ausgangssituation
An allen 19 Standorten der Organisation fanden Gruppendiskussionen zu den psychischen Arbeitsbedingungen statt. Es wurden mit den MitarbeiterInnen die Stressfaktoren konkretisiert und mögliche Maßnahmen erarbeitet.
Mit den StandortleiterInnen wurde über die Ideen diskutiert und es wurden bereits die Maßnahmen umgesetzt, die am Standort auch eigenständig gelöst werden können. Dennoch blieben Themen übrig, die für alle Standorte ein Problem darstellen.
Die Steuerungsgruppe (oberste Führungsebene, Personalabteilung, Betriebsrat) entschied sich daher, dass ein gemeinsamer Workshop her sollte. 1,5 Tage wurden dafür eingeplant.
Ziele:
- standortübergreifend über die Stressfaktoren diskutieren
- Themen nach Wichtigkeit priorisieren
- Maßnahmenvorschläge erarbeiten, die für alle Standorte umgesetzt werden können
Nach einigen Besprechungen zu den Zielen und den TeilnehmerInnen entschieden wir Arbeitspsychologinnen uns für eine Open-Space-Konferenz.
Open Space. Was ist das?
Eine Open-Space-Konferenz wird üblicherweise für Großgruppen mit bis zu 2.000 TeilnehmerInnen organisiert und besticht durch die inhaltliche Offenheit. Die TeilnehmerInnen bringen selbst Themen ein, erarbeiten Projekte und am Schluss werden die Ergebnisse im Plenum zusammengetragen.
Fix ist nur der methodische Rahmen und diesen haben wir für diese Klausur übernommen und angepasst.
Vorbereitung. Der wichtigste Schritt für die Moderation.
Vor der Konferenz mussten wir zunächst festlegen, wer daran teilnehmen soll.
Es galt ja immerhin über 200 MitarbeiterInnen von 19 Standorten, mit 5 verschiedenen Berufen, diversen Zusatzfunktionen und auch nach soziodemographischen Variablen (Alter, Dienstalter, Geschlecht) repräsentativ vertreten zu haben. Wir entschieden uns für eine Mischung aus freiwilliger Meldung und Auswahl durch die Steuerungsgruppe.
Dann sahen wir uns die Themen genauer an. Es gab Ergebnisse von allen Standorten und bereits eine gute Zusammenfassung der Personalabteilung.
Wir bereiteten für alle TeilnehmerInnen Mappen vor, welchen sie den Zeitplan, die Themen und die Rahmenbedingungen der Konferenz entnehmen konnten.
Namensschilder druckten wir auch aus, weil sich viele TeilnehmerInnen vorher nicht kannten. Wir verzichteten hier jedoch bewusst auf akademische Grade und Angaben zur Funktion/ zum Beruf, damit möglichst offen diskutiert würde Es wurde lediglich Vorname, Nachname und Standorte „öffentlich“ gemacht.
Vor Ort gab es dann für die TeilnehmerInnen eine Wand, wo alle Themen detailliert mit aufgeklebten A4-Zetteln dargestellt waren.
Die TeilnehmerInnen legen die Themen fest.
Nach der Begrüßung durch uns Moderatorinnen und der Erklärung zum Ablauf hatten die TeilnehmerInnen die Aufgabe selbst einen Ablaufplan zu fixieren.
Wir gaben weder die Themen, noch die Reihenfolge noch die Gruppeneinteilung vor. Alles lag in der Hand der TeilnehmerInnen. Nur der zeitliche Rahmen kam von uns. Aber auch den hätten wir angepasst auf Gruppenwunsch.
Dadurch konnten die MitarbeiterInnen selbstständig überlegen:
- Welches Thema ist mir so wichtig, dass ich dazu eine Arbeitsgruppe leiten will? („Themen-VeranwortlicheR“ sein)
- Bei welchem Thema will ich mitdiskutieren?
- Welches Thema kann man in meinen Augen auch weglassen?
- Gibt es Themen, die mir auf der Übersicht fehlen, weil sie zum Beispiel erst in den letzten Wochen aktuell geworden sind?
Nach ca. 30min hatten wir einen Plan auf einem großen Stück Packpapier an der Wand:
Wie läuft die Diskussion?
Nach der Festlegung der Arbeitsgruppen und Themen begannen wir gleich mit der Arbeit. Durch die selbstständige Festlegung gab es für jedes Thema mindestens eine Person, die die Arbeitsgruppe und damit das Thema voranbringen wollte („Themen-VerantwortlicheR“). Und alle anderen TeilnehmerInnen konnten sich einer Arbeitsgruppe anschließen.
Auf den Tischen der Arbeitsgruppen platzierten wir im Vorfeld:
- Plastikaufsteller mit Tischbezeichnung
- Zettel mit Zielsetzung der Diskussion
- Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse laut Personalabteilung
Die MitarbeiterInnen waren aber auch nicht an eine Arbeitsgruppe gebunden und konnten sich frei bewegen, wenn das für sie mehr Sinn machte. Dies wurde von den Personen in sehr unterschiedlichem Ausmaß genutzt. Meistens blieben sie aber min. 30min bei ihrer Arbeitsgruppe zum Mitdiskutieren.
Wir (2 Arbeitspsychologinnen) wechselten zwischen den Arbeitsgruppen, halfen beim Konkretisieren durch Nachfragen und unterstützen mit Ideen für Maßnahmen. Die Gruppen dokumentierten ihre Ergebnisse jeweils am Ende der Session auf einem A3-Blatt.
Am Ende jeder Session berichteten die Themen-Verantwortlichen im Plenum über die Diskussionsergebnisse und hängten die Ergebnisblätter im Raum auf. Damit waren immer alle MitarbeiterInnen über die anderen Arbeitsgruppen informiert.
Ergebnisse brauchen Praxistransfer.
Nach Abschluss der Arbeitsgruppen, einer großen Zusammenfassung und einer Arbeitsrunde um die Ergebnisse noch zu verfeinern, ging es um den Transfer in die Praxis.
Zuerst wurden in einer geheimen Wahl zwei Gruppenvertreter von den TeilnehmerInnen gewählt, die die Gruppe themenübergreifend (auch später vor der Steuerungsgruppe) vertreten sollen.
Um gleich Feedback zu den Ergebnissen zu erhalten hatten wir die Leiterin aller Standorte für die letzten 2 Stunden der Open-Space-Konferenz eingeladen. Hier wendeten wir die Fish-Bowl-Technik an:
Die Gruppenvertreter wurden jeweils von dem/der Themenverantwortlichen unterstützt. Die Leiterin (Führungskraft) hörte sich die Diskussionsergebnisse an und konnte gleich Feedback geben oder ihre Gedanken zu den Themen mitteilen. Eine Arbeitspsychologin von uns moderierte das Feedbackgespräch.
Bei dieser Technik sitzen alle anderen TeilnehmerInnen in einem größeren Sesselkreis außen um die Diskussionsrunde herum und dürfen nicht mitreden. Aber es gibt einen freien Platz in der Mitte, wo man als TeilnehmerIn Platz nehmen kann um kurz etwas zu ergänzen oder eine Frage zu stellen.
Nach der Konferenz gab es auch 4 Wochen später ein Treffen mit den 2 GruppenvertreterInnen, einer Arbeitspsychologin von uns und der Steuerungsgruppe.
Fazit.
Die TeilnehmerInnen waren ausnahmslos begeistert von dem Format. Besonders positiv wurde erwähnt, dass man sich sehr selbstständig organisieren konnte und niemand zu Themen gezwungen wurde, die einen nicht interessierten. Auch zeigten sie sich am Ende der 1,5 Tage verwundert darüber, wieviel man in so kurzer Zeit diskutieren und entwickeln konnte.
Sekretariatskräfte freuten sich, dass sie auch repräsentativ gut vertreten waren. Einige TeilnehmerInnen, die viel mitdiskutieren wollten, gaben sehr positives Feedback dazu, dass sie sich zwischen den Arbeitsgruppen frei bewegen konnten und nicht vorher eine endgültige Entscheidung treffen mussten.
Für uns war besonders positiv, dass die Festlegung der Arbeitsgruppen gut funktioniert hat und sich für alle großen Themen (trotz enormer Anzahl) ein/e Themen-Verantwortliche/r fand. Es wurden sogar noch zusätzliche Themen mitaufgenommen.
Die TeilnehmerInnen diskutierten dabei wirklich auf Augenhöhe und berücksichtigten die verschiedenen Sichtweisen der unterschiedlichen Berufe.
Für uns war es zwar herausfordernd, immer so „live“ wie möglich alle Ergebnisse am Laptop mitzuschreiben und den TeilnehmerInnen regelmäßig auszudrucken. Aber da war es wert. Dadurch hatten wirklich alle jederzeit einen guten Überblick über die Ergebnisse. Das Protokoll entstand dadurch während der Konferenz und wir brauchten nach Abschluss nicht mehr nacharbeiten.
Das Konzept hat sich also voll bewährt und wir werden es gerne wieder anwenden, wenn die Gelegenheit passt!
Veronika Jakl
Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".
Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren.
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.
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