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Menschen als Sicherheitsrisiko?! Psychologische Einflussfaktoren auf Arbeitssicherheit

Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass Menschen sinnvoll handeln. Niemand will am Arbeitsplatz absichtlich ein Sicherheitsrisiko darstellen, sich selbst oder andere gefährden.

In der Podcast-Episode 159 sprechen wir darüber, ob Menschen ein Sicherheitsrisiko sind, welche psychologischen Einflussfaktoren in dem Kontext eine Rolle spielen und worauf Sie in der Arbeitssicherheit achten sollten.

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Bevor wir loslegen:

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Ich schreibe seit ein paar Monaten für den WEKA-Verlag in Österreich, u.a. für das Buch "Schulung und Unterweisung im Brandschutz". Und da habe ich jetzt aktuell das Kapitel "Der "Faktor Mensch" als Sicherheitsrisiko" geschrieben.

Und das möchte ich heute gerne mal mit Ihnen durchgehen: Welche psychologischen Einflussfaktoren spielen eine Rolle beim Umgang mit Risiken? Und worauf sollten Sie in der Arbeitssicherheit achten?

Wir wissen:
Menschen sind nicht perfekt. Manche Leute in der Arbeitssicherheit würden sogar so weit gehen, zu behaupten, der Mensch an sich sei ein Sicherheitsrisiko. Aber als Psychologin möchte ich sagen: Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass Menschen sinnvoll handeln. Niemand will am Arbeitsplatz absichtlich ein Sicherheitsrisiko darstellen, sich selbst oder andere gefährden.

Aber manchmal sind die Einschätzungen falsch, die Prioritäten werden für den Moment anders gesetzt oder es gibt Wahrnehmungsverzerrungen durch die Gruppendynamik.

Dabei gilt es aus psychologischer Sicht zu differenzieren und vier große Einflusskategorien zu unterscheiden:

  1. Kognitive Verzerrungen ("Bias")
  2. Psychische Fehlbelastungen
  3. Soziale Einflüsse des Teams
  4. Die Präventionskultur im gesamten Betrieb

Sehen wir uns daher einige dieser Einflüsse auf die Arbeitssicherheit genauer an:

1. Einflussfaktor: Kognitive Verzerrungen

Diese Verzerrungen werden auch "Bias" genannt. Sie entstehen, weil unser Gehirn damit (sinnvollerweise) Verarbeitungskapazität sparen möchte. Denn bei der Menge an Informationen, die wir sonst ständig verarbeiten müssten, wären wir schnell überfordert (so wie dies auch bei Menschen mit Autismus der Fall ist). Diese "Abkürzungen" im Gehirn - die normalerweise im Alltag auch hilfreich sind - können jedoch auch zu Problemen und Vorurteilen führen.

Selbstüberschätzung und das Phänomen "Mir passiert das nicht"

Hier kann man davon ausgehen, dass Menschen ihre eigenen Fähigkeiten total überschätzen, vor allem bei einfachen Aufgaben oder bei Dingen, die sie schon häufig gemacht, viel geübt haben, wie z.B. Autofahren. Auch die eigene Leistung und das eigene Wissen wird systematisch überschätzt von Menschen.

Und gleichzeitig unterschätzt man das Risiko, dass etwas passieren könnte, vor allem, wenn man dem Risiko schon häufig ausgesetzt war, ohne dass etwas passiert ist. Wenn etwa ein Dachdecker schon auf vielen Baustellen gearbeitet hat, kann er den Eindruck haben, dass er "eh das Gleichgewicht halten kann" und wird die Absturzsicherungen vielleicht weglassen im Glauben "Ich habe das bislang immer überlebt! Da wird schon nichts passieren." Es wird also von der Vergangenheit auf die Zukunft geschlossen ohne dabei Wahrscheinlichkeiten für Risiken einzukalkulieren. Und das ist ein Problem! Das haben wir häufig in der Arbeitssicherheit!

Dieses Phänomen trifft auf Männer stärker zu als auf Frauen. Sie überschätzen eher ihre eigene Leistung, ihr eigenes Wissen bzw. ihre Intelligenz.

Menschen mit faktisch geringen Fähigkeiten überschätzen sich nochmals stärker und glauben auch, dass sie besser sind als der Durchschnitt. Dies kommt wahrscheinlich daher, dass diese gar nicht einschätzen können, wie sehr andere ihnen überlegen sind und nicht erahnen, was sie selbst alles noch nicht wissen. Sie sind daher sehr selbstbewusst im Vergleich zu Menschen, die sich durch Ausbildung und Übung realistischer einschätzen können.

Rückschau-Fehler

Menschen haben die Tendenz, nach einem Ereignis, wie z.B. einem Arbeitsunfall, dieses als "absolut logisch" einzuschätzen und auch zu glauben, dass sie es vorhergesehen hätten ("Es war klar, dass das irgendwann passieren wird"), obwohl das nicht stimmt, obwohl es sehr schwer ist, Arbeitsunfälle vorherzusagen (sonst gäbe es ja weniger).

Woran liegt das?
Dies liegt daran, dass Menschen glauben, dass aufeinanderfolgende Ereignisse einen Zusammenhang haben, weil wir manchmal auch Informationen im Nachhinein anders bewerten und weil wir uns auch falsch erinnern (unser Gehirn ist echt schlecht darin, sich tatsächlich an Fakten, an Situationen zu erinnern). Auch versuchen wir manchmal, mit diesen Einschätzungen unsere eigenen Handlungen vor uns selbst zu rechtfertigen. 

Tendenz zur Unterlassung

In schwierigen Situationen haben Menschen die Tendenz dazu, nichts zu tun, selbst wenn dieses Warten ­– objektiv gesehen – zu schlechteren Ergebnissen führt bzw. riskanter ist. Es wirkt dann, als wären sie wie gelähmt. Diese Tendenz ist vor allem bei gefühlt übersichtlichen Situationen vorhanden, die sie scheinbar unter Kontrolle haben.

Zum Beispiel:
Bei angekündigtem, aber nur sehr langsam steigendem Hochwasser gibt es die Tendenz zur Unterlassung. Da verlassen Menschen erst sehr/zu spät die Gefahrenzone.

Tendenz zu überstürztem Handeln

Wenn es umgekehrt ist, dass eine Situation sehr, sehr bedrohlich ist und gleichzeitig widersprüchlich erscheint, und man nicht weiß, was man tun soll (z.B. bei einem Tsunami), dann werden Menschen eher hektisch. Dann hat man eher die Tendenz zu überstürztem Handeln. Dadurch wird versucht, das Gefühl der Kontrolle zurückzuerlangen, indem man irgendetwas tut. Das kann aber zu falschen Entscheidungen führen.

Zum Beispiel:
Nach einem Auffahrunfall auf einer mehrspurigen Autobahn auf dem linken Fahrstreifen läuft das Unfallopfer – ohne zu schauen – über alle Fahrbahnen zum Pannenstreifen, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Und wird dann manchmal überfahren.

Das waren ein paar Beispiele für diese psychologischen Bias, für diese kognitiven Verzerrungen, die Menschen im Gehirn eingebaut haben. Die habe ich, die haben Sie und die haben auch die Beschäftigten, mit denen wir zu tun haben.

2. Einflussfaktor: Psychische Fehlbelastungen

Auch psychische Arbeitsbedingungen haben einen Einfluss auf die Arbeitssicherheit. So können sich natürlich fehlende Sicherheitsunterweisungen oder fehlende Informationen beispielsweise über die Erreichbarkeit von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) negativ auswirken. Aber auch solche Dinge, wie die wahrgenommene Bequemlichkeit der PSA darf man nicht unterschätzen.

Eine spezielle Rolle kommt dem wahrgenommenen Zeitdruck bei der Arbeit zu. Wenn die Führungskraft die Leistung der Beschäftigten nur an der Produktivität misst und sehr hohe Ziel setzt, ohne die Machbarkeit unter sicheren Arbeitsbedingungen im Auge zu haben, dann werden sich auch die Beschäftigten daran orientieren und werden versuchen, diese Ziele zu erreichen und nicht unbedingt auf die sicheren Arbeitsbedingungen achten.

Die Prioritäten der Führungsebenen werden durch explizites Aussprechen bei Teammeetings, Aushängen von Produktivitätskennzahlen, Bonus-Zahlungen und auch informelle Kommunikation klar gemacht. Und wenn die Beschäftigten hier den Eindruck haben, dass nur die produzierte Stückzahl, der Durchsatz oder fertige Kundenprojekte zählen oder die Geschwindigkeit, mit der Baustellen abgeschlossen werden, dann werden sie sich daran orientieren und im Zweifelsfall schneller und unsicherer arbeiten.

3. Einflussfaktor: Soziale Einflüsse des Teams

Auch die Gruppendynamik in einer Abteilung, einem Team oder einer Partie ist relevant für die Arbeitssicherheit.

Zum Beispiel geht es hier um die  Identifikation mit der Gruppe. Jetzt könnte man meinen, alle Erwachsenen treffen ihre eigenen Entscheidungen, sind unabhängig und lassen sich nicht von anderen negativ beeinflussen. Jedoch ist es ganz normal, dass wir uns einer Gruppe (z.B. Team, Abteilung) zugehörig fühlen wollen und uns mit ihr identifizieren. Daher wachsen neue Beschäftigte in Gruppendynamiken hinein und merken dann sehr schnell, welche Verhaltensweisen in einer Abteilung oder einem Team üblich sind und was als normal gilt. Auch, was den Umgang mit Arbeitssicherheit betrifft.

Wenn es in einer Gruppe normal ist, dass PSA nicht immer verwendet wird oder dass man möglichst schnell arbeitet, um möglichst früh Mittagspause machen zu können, dann fällt es schwer, sich diesem Gruppenverhalten zu widersetzen, vor allem wenn man neu dort ist oder schon länger mit dabei ist und es "einfach immer so war". Das gilt besonders, wenn z.B. dienstältere Beschäftigte oder meinungsstarke Personen hier unsichere Verhaltensweisen an den Tag legen. Solche Gruppendynamiken müssen bei Unterweisungen, Unfallanalysen und Interventionen berücksichtigt werden. Einfach zu sagen "Dann mach es eben anders als die anderen und sei klüger" wird nicht ausreichen. Weil: Wir Menschen identifizieren uns gerne mit einer Gruppe und fühlen uns gerne zugehörig.

Ein weiteres sozialpsychologisches Phänomen, das hier relevant ist, ist die Verantwortungsdiffusion. Je mehr Personen anwesend sind, umso mehr lässt die übernommene Verantwortung von einzelnen Personen nach.

Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Unfall und laufen dann hin. Helfen Sie dem Unfallopfer? Ziemlich sicher.
Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sehen eine Menschentraube. Sie gehen neugierig hin und bemerken, dass dort ein Unfallopfer am Boden liegt. Die meisten Menschen schauen nur und reden z.B. über mögliche Unfallursachen. Wenige Leute helfen aktiv. Was tun Sie? Die Wahrscheinlichkeit ist relativ groß, dass Sie sich auch dazustellen und nicht aktiv eingreifen, selbst wenn Sie sich für eine verantwortungsvolle und hilfsbereite Person halten.

Der Hintergrund dieses Phänomens ist, dass wir uns mit unserem Verhalten an anderen Menschen in der gleichen Situation orientieren. Und wenn hier viele nur herumstehen, werden wir das selbst auch eher machen. Um uns aber dabei nicht schlecht zu fühlen, sagen wir zu uns, dass die helfenden Personen wahrscheinlich kompetenter sind (beispielweise in Erster-Hilfe) und wir selbst nur die Abläufe stören würden, wenn wir eingreifen. Man hat dann im Kopf gleich Rechtfertigungen.

4. Einflussfaktor: Präventionskultur im Betrieb

Da denke ich nicht nur an die Abteilung und die direkte Führungskraft (wie vorher beschrieben) sondern an die große Kultur in einer Organisation.

Über Präventionskultur habe ich im Podcast schon immer wieder mal gesprochen, da gibt es einige alte Episoden, auf die Sie zurückgreifen können

Jedenfalls bezeichnet Präventionskultur den Teil der Organisationskultur, der die gemeinsamen Werte, Normen, Denk- und Verhaltensmuster in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit beschreibt. Stellen Sie sich das ein bisschen wie die Persönlichkeit einer Firma vor.

Die Präventionskultur wird einerseits sichtbar, z.B. durch den Zustand der Maschinen, der PSA, die ausgegeben wird, aber auch durch die Verhaltensweisen von Beschäftigten. Und andererseits kann man Präventionskultur auch erkennen an den herausgestellten Werten, wie den Firmenzielen, den Strategien und auch den Leitlinien.

Man muss dabei aber immer auch im Auge behalten, dass solche kommunizierten Vorgaben von Gesetzen und sozialer Erwünschtheit abhängen. Da gibt es viele Einflussfaktoren.

Wenn beispielsweise Leute nicht eingreifen bei offensichtlichen Sicherheitsmängeln oder bei der Missachtung von Sicherheitsmaßnahmen stillschweigend daneben stehen, dann zeigt dieses Verhalten sehr stark die gelebte Präventionskultur auf. Da muss die Führungskraft gar nicht explizit aussprechen, dass die Arbeitssicherheit nicht wichtig ist. Denn die wahrgenommenen Prioritäten werden auch implizit weitergegeben durch Verhaltensweisen, wie das Verdrehen der Augen, wenn man sich PSA anlegt vor der Arbeit usw.

All das zeigt die Präventionskultur in einem Betrieb. Präventionskultur kann man nicht angreifen, genau so wenig wie Persönlichkeit. Aber diese Dinge sind wie kleine Bausteine, die eben in Summe die Präventionskultur zeigen und einen großen Einfluss haben.

 

Fazit

Sind Menschen ein Sicherheitsrisiko?
Naja. Wir sind halt keine Roboter, die genau das und nur das tun, wofür sie programmiert wurden. Aber: Aus psychologischer Sicht handeln Menschen immer sinnvoll. Aber eben nur sinnvoll auf Basis ihres eigenen Standpunkts, im Rahmen ihrer eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen und zum aktuellen Zeitpunkt. Die Einschätzung, welches Verhalten gerade sinnvoll ist und welche Prioritäten zu setzen sind, kann sich sehr schnell verändern. Das kann Millisekunden später anders sein.

Wenn wir uns aber vor Augen führen:
Dieser Mensch, der uns gegenüber steht, handelt sinnvoll - eben in seiner Welt, durch seine Brille, durch seine Sichtweise - dann haben wir eine konstruktivistisch Herangehensweise. Und dann fällt es uns auch in der Arbeitssicherheit leichter, Arbeitsunfälle gründlich und objektiv zu analysieren und nicht einfach vom "Menschen als Ursache" auszugehen. Denn hinter "menschlichem Versagen" steckt oft viel mehr, das es zu beleuchten gilt, um diese Unfälle in Zukunft zu verhindern.

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Veronika Jakl

Arbeitspsychologin, Autorin ("Aktiv führen") und Gastgeberin bei den "Pionieren der Prävention".

Begleitet seit 12 Jahren Organisationen dabei motivierende Arbeitsbedingungen zu schaffen und psychische Belastungen zu reduzieren. 
Unterstützt PräventionsexpertInnen, die wirklich etwas bewegen wollen.

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